KreuzlingerZeitung Nr. 34 • 23. August 2019 14 • KULTUR
Die chinesische Schriftstellerin Sun Wei hat am liebsten auf dem Balkon des Bodman Literaturhauses geschrieben. Bild: zvg
Shanghai und Gottlieben sind zwei Orte, deren Gegensätze krasser nicht sein könnten. In der chinesischen Metropole mit dem grössten Hafen der Welt leben über 23 Millionen Menschen auf engstem Raum, es ist laut, hektisch und anonym. Sun Wei wohnt dort im 21. Stock eines Wolken- kratzers. Im idyllischen 300-Seelen-Dörfchen Gottlieben kennt jeder jeden und abends grüssen Schwäne im Sonnenuntergang. Hier hat die Schriftstellerin das familiäre Miteinander im Dorf genossen. Auf Einladung der Thurgauer Kulturstiftung durfte sie im Bodmanhaus zwei friedliche und produktive Monate verbringen. Mit uns hat sie über seltsame Rituale im chinesischen Arbeitsalltag gesprochen und wie wichtig es ist, auch mal auf Konventionen zu pfeifen.
Frau Sun, in ihrem Buch «Confessi- ons of a Bear» beschreiben Sie, wie Angestellte einer grossen Kommuni- kationsfirma unter ihren Vorgesetz- ten auf Partys leiden müsse. Haben Sie das selbst so erlebt?
Natürlich, jeder kennt das, ausser Menschen, denen es egal ist, was andere von ihnen denken, oder die nichts mehr erreichen wollen. Wir bezeichnen dieses Verhalten als «Alkohol-Gewalt». Es passiert hier jeden Tag in der Geschäftswelt. Vorgesetzte besitzen das Recht, niedrig gestelltere Angestellte im Rahmen von festlichen Abendessen zum Trinken zu zwingen. Dasselbe gilt für grosse Kunden eines Unternehmens. In meinem Buch steht das Verhalten symbolisch für die Grausamkeit der Menschen. Sie quälen andere aus Spass oder um sich besser zu fühlen, während wilde Tiere andere nur verletzen, wenn sie Angst haben oder hungrig sind —nie ohne Grund.
Diese Bankette scheinen fester Teil der chinesischen Kultur zu sein ...
Ja, und Essen spielt dabei auch eine grosse Rolle. Ich würde so weit gehen, zu sagen, dass es als unhöflich empfunden wird, jemanden um etwas zu bitten oder einen Auftrag zu erteilen, ohne diese Person zum Essen einzuladen. Und wer an den Hebeln der Macht sitzt, kann andere dabei zum Trinken zwingen. Ich verachte Menschen, die Macht und Privilegien ausnutzen oder es geniessen, anderen zu befehlen. Dieses Streben nach Macht ist hässlich und beschämend.
Lassen Sie sich selbst auch zum Trinken zwingen?
Das ist eigentlich unvermeidbar. Als ich noch jünger war, habe ich mitgespielt. Heute nicht mehr. Aber nicht, weil ich erfolgreich bin, sondern weil ich losgelassen habe. Eigentlich sollte ich öfter Einladungen zu diesen sozialen Essen annehmen, um meine Karriere voranzutreiben, gute Deals für meine Arbeit oder Werbung an Land zu ziehen. Aber wenn es mich nicht interessiert, wie viele Buchkritiken über meine Bücher geschrieben werden oder wie viele Exemplare ich verkaufen kann, dann muss ich das nicht mehr.
In Gottlieben haben Sie das Thema auch in Ihrer Lesung aufgegriffen. Wie haben Sie Ihren Aufenthalt erlebt?
Ich habe es genossen! Weil so wenig Menschen dort leben, ist jede Beziehung etwas Besonderes. Meine Gastgeber und Nachbarn waren herzerwärmende Menschen. Es ist einfach etwas anderes, als mit Hunderten Un- bekannten in einem Wolkenkratzer zu wohnen. Wer im Leben zehn enge Freunde findet, hat einen Schatz gefunden. Das ist wichtiger als hundert Freunde auf Facebook zu haben. Diese Verbindungen sind nicht echt. Mir kam die Dorfgemeinschaft vor wie eine grosse Familie. Schweizer haben viel mehr Einfühlungsvermögen als andere Europäer.
Na ja, das kann ich jetzt so nicht unterschreiben ...
Doch, zumindest aber gegenüber Grossstadtchinesen. In Shanghai ver- suchen die Menschen auf der Strasse, ein möglichst unbeteiligtes Gesicht zu machen, um ja nicht mit Fremden sprechen zu müssen. Ich fühle mich dort einsam.
Unerkannt in der Grossstadt umher zu streunen, das ist doch toll. Ich für meinen Teil geniesse es auch, allein zu sein ...
Ich auch, ich brauche das. Dabei lädt sich die Batterie meiner Seele wieder auf. Aber in der Grossstadt verwandelt sich Alleinsein schnell in Gleichgültigkeit. Es ist schön für einen Touristen ... aber nicht ein Leben lang. Klar, wenn ich mit Freunden ausgehe, haben wir viel mehr Möglichkeiten und können uns auch mal danebenbenehmen, ohne dass gleich das ganze Dorf tratscht. Aber irgendwie kümmert sich niemand so richtig um den anderen. Menschen benutzen andere Menschen wie Servietten und werfen sie dann weg.
Wow, das hört sich jetzt aber richtig verzweifelt an. Schreiben Sie viel über diese dunklen Seiten des Grossstadtlebens?
Während ich schreibe, wenn ich Menschen, Leben und Welten entwerfe, empfinde ich all ihre Freude und Hoffnung, aber auch ihre Enttäuschung, Traurigkeit, und Wut, alle Leiden auf einmal. Manchmal zerbricht es mir richtig das Herz. Aber ich glaube an das Gute in der menschlichen Natur und dass die meisten Menschen eine bessere Welt wollen. Zu bemerken, was falsch läuft in unserem Leben, ist eine Qualität, die eine Schriftstellerin aus- macht. Darüber zu schreiben geschieht in der Hoffnung, unser Leben authentischer und bedeutungsvoller zu machen. Der Horror des modernen Lebens ist es, sich einem 0815-Alltag und Wertesystem zu ergeben, nur weil man sich davon Wohlstand verspricht. Aber würde ich die Grossstadt nicht lieben, würde ich nicht über sie schreiben. Mich interessiert aber auch Spirituelles und Poetisches. Surreale Geschichten und Märchen, welche die Verbindung zwischen Mensch und Natur oder Selbstfindung beinhalten.
Haben Sie dafür Inspiration in Gottlieben gefunden?
Ja, das Bodmanhaus ist so alt und wunderlich. Ich konnte die Wärme der vergangenen Jahrhunderte in den krummen Wänden und Fussböden spüren. Das Haus wirkt so lebendig, als ob es sich ab und zu strecken muss. Überall sind Hausgeräusche zu hören, überall knarzt und knackt es. Gerne sass ich auf dem Balkon und habe geschrieben. Einen Roman habe ich beendet, einen neuen angefangen, und zwei Gedichte geschrieben. Der Seerhein hat mich besonders beeindruckt: Zu Sonnenaufgang und –untergang bin ich öfter schwimmen gegangen. Das Wasser war ruhig und glatt wie Seide, während En- ten und Schwäne um mich herum schwammen. Zusammen mit anderen Vögeln und den Fröschen haben sie ein Konzert nur für mich gesungen.
Wären Sie gerne länger geblieben?
Wenn ich doch nur in Gottlieben blei- ben könnte für den Rest meines Lebens! Hoffentlich adoptiert mich jemand ...
Interview: Stefan Böker
«HAUS FÜR LITERATEN»
Seit der Eröffnung 2008 ist das Stipen- diat ein fester Bestandteil des Pro- gramms im Literaturhaus Bodman. Au- toren wird hier die Möglichkeit gegeben, losgelöst vom Alltag an ihren Werken zu arbeiten. Möglich macht das die Kultur- stiftung des Kantons Thurgau. Deren Literaturgruppe schlägt die Kandidaten vor; bewerben können sie sich nicht. Es ist auch keine Bedingung, dass ihre Werke auf Deutsch oder in anderen Übersetzungen erhältlich sind.
Sun Wei beispielsweise veröffentlicht fast nur auf Chinesisch. Damit reiht sie sich ein in Stipendiaten aus allen mög- lichen Ländern, von Griechenland über Tunesien bis nach Indien. Die 46-Jähri- ge wird als eine der originellsten Stim- men der chinesischen Gegenwartslite- ratur gehandelt. Sie schreibt Gedichte, Kurzgeschichten und Romane und wur- de dafür schon mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Sie hat ihr Schaffen auch an einer Lesung in Gottlieben vor- gestellt. sb